Würzburg 20. Januar 95.
Liebe Lotte!
Es ist Son̄tag und augenblicklich
ist es still um mich, Willy sitzt
an einer Arbeit in seinem
Laboratorium und Bertha gieng
zur Kirche, so will ich den̄ die
Zeit benützen um mit Dir zu
plaudern, und Dir herzlich Dank
zu sagen von uns Beiden für
Deine Glückwünsche zu unserem
Hochzeitstag, welchen wir gestern
still und zufrieden über das gro-
ße Glück, womit uns Gottes Güte
beschenkte, feierten. Eigentlich hatten
wir auf gestern Abend eine Ein-
ladung zu einem Route ange-
nom̄en, schrieben aber Abends
noch ab, weil wir lieber ge-
müthlich zu Hause bleiben woll-
ten, als unter Menschen zu ge-
hen die uns im großen Ganzen
nicht sehr intreßierten. Das ge-
sellschaftliche Leben läßt sich dieses
Jahr sehr milde an, worüber
mein Man̄ sehr froh ist; auch mir
war es bis jetzt so recht, obschon
ich im allgemeinen nicht ganz
für das zurückgezogene Leben
bin. Es bringt auch einmal eine
angenehme Abwechslung, wen̄
man mit netten Menschen zu-
Soeben lesen wir das Prof. Carier gestorben ist,
es thut uns recht leid um ihn, er war bis jetzt so frisch und kräftig.
sam̄en kom̄t und schließlich hat
man seinen Bekan̄ten gegen-
über auch Verpflichtungen.
Ich sehe aus Deinen Briefen stets
mit Vergnügen, daß auch Du
bekehrt bist und Dich nicht von
dem geselligen Leben zurück-
ziehst, wie Du es hier so gerne
thatest; Du scheinst es nun auch ein-
zu sehen, daß man sich gegen-
seitig etwas sein muß, selbst-
verständlich, Jeder auf seine
Art und nach seinem Geschmack.
Wir sind diesen Winter noch nie
im Theater gewesen, desto
eifriger giengen wir in die
Concerte. Auch Bertha durfte schon
zwei Mal mit, damit sie lernt,
gute Museik zu hören. Zu un-
serer Freude mach es ihr im̄er
einen großen Eindruck und
bemerkt man an ihr keine
Ermüdung. Die Klavierstunden
machen ihr die größte Freude
und sie macht sehr gute Fort-
schritte. Weniger glänzend
sind die Fortschritte in der Schule,
dort scheint sie im̄er sehr zer-
streut zu sein, worüber es hie
und da zu ernstlichen Ermahn-
ungen kom̄t. Doch geht sie bis
jetzt als mittelmäßig mit und
wir müßen hoffen, daß sich das
Intreße mit den Jahren, auch
für die Schule steigern möge.
Körperlich wird sie groß und
stark und der gute Onkel
kan̄ sie beim spielen nicht mehr
so leicht überwälltigen, wie
vor 3 und 4 Jahren.
Gott gebe daß sie weiter so ge-
deiht, daß wir uns mit unserer
Aufgabe befriedigt sein kön̄en
und ihr ein gutes Loos zu Theil
werden mögen.
Doch verzeih, daß ich so ausführ-
lich bin, und laß mich wieder
zu Dir zurückkehren.
Einwenig erstaunt bin war ich ich
über den Begin̄ Deines Briefes,
daß es Dir nun plötzlich wie-
der schwer zu sein scheint, mich
Tante Bertha zu nen̄en. Es
ist mir nicht verständlich, was
nun wieder den Anlaß zu
diesen Gefühlen gegeben haben
mag, und es thut mir leid
zu denken, daß es Dir nicht
angenehm ist, mich weiter
so zu nen̄en. Also, liebe Lotte
ganz nach Deinem Gefühl, es
soll mir recht sein, wen̄ es Dich
befriedigt.
Deine Versicherungen, daß Du
Dich je länger je glücklicher schä-
zest in Deiner jetzigen Lebens-
stellung und Deinem Wirken
erfreut uns Beide sehr, wünschen
wir Dir doch von ganzem Her-
zen innere Befriedigung und
die volle Freude an deiner Ar-
beit. Mit großem Intreße
folgen wir Deinen Fortschritten
und Deinen Erfolgen, möge
Dir das Glück doch weiter so
günstig bleiben.
den 21.ten.
Soweit kam ich gestern Morg-
gen, Nachmittags gab es keine
Ruhe mehr. Es war ein Regen-
tag und Bertha durfte sich zwei
Kinder einladen zum spielen.
Als gute Pflegemutter thue ich
dan̄ getraulich mit, man lernt
mit den Kindern wieder jung
sein. Es wird mir dieß nun
so leichter, als mein körper-
liches Befinden so viel besser
ist als früher; ich habe über
nichts zu klagen, als über den
störenden Husten, der mich
Nachts nicht schlafen läßt.
Den ganzen Winter habe ich den
Dr. Lindner dafür; aber bis jetzt
hat noch kein Mittel recht gehol-
fen und nun hoffen wir Alle
daß ein Aufenthalt im Süden
das beste Mittel sein wird.
Wo wir unsern Aufenthalt nehmen
werden ist noch nicht bestim̄t, ich
möchte an keinem Ort wo viel
Kranke sind, aber einen Ort
wo man Spaziergänge und
Ausflüge hat, die Abwechsung
bieten.
Daß Du mir so gute Nachricht
über das Befinden Deiner lieben
Mutter geben kan̄st, freut
mich sehr, möge es doch lange
so bleiben. Gewiß tragen die
günstigen Nachrichten von Nah
und Fern, viel dazu bei, daß
sie so munter ist und daß sie
hoffnungsvoll in die Zukunft
blicken mag. - Sehr leid thut
es mir um Dich, daß Du Deine
Pläne in Betreff einer Reise
nach England nicht ausführen
kan̄st, doch wird es Dir später
schon gelingen, wen̄ die unter-
nehmungslustige Lisel wieder
in die Heimat zurückkehrt.
Freuen thue ich mich mit Dir, daß
Dein Schützling sich Dir so dank-
bar erweißt. Hierbei fällt mir
ein, daß es mir doch erwünscht
wäre, wen̄ ich den Preis für
das kleine Relief erführe, viel-
leicht wären hier auch noch ein-
ige los zu bringen.
Was das Buch von Gabriele von
Bulow anbetrifft, so ist es
mir unbegreiflich daß ich es
Dir an Weihnachten vorigen
Jahres nicht mitgetheilt habe,
daß ih es bekom̄en habe. Du
hast ganz recht, es ist ein herr-
liches Buch und ich habe es mit
dem größten Intreße schon
zwei mal gelesen.
Diese Weihnachten habe ich außer
Böcklin kein Buch erhalten, doch
dieß macht nichts, ich habe noch
Manches schön wieder zu lesen.
Augenblicklich lese ich die Lebens-
beschreibung von Werner Siemens.
Du fragst wie es meinem
Man̄ geht und ärgerst Dich über
ihn, da er Dir nicht schreibt.
Liebe Lotte, ich glaube es muß
Dir doch bekan̄t sein, daß er
so viel wie gar keine Pri-
vate Korrespondenz führt, ins
besondere dan̄ gerne seiner Frau
überläßt wen̄ es gemeinschaft-
liche Bekan̄te sind und er weiß
daß ich von Zeit zu zeit ausführ-
lich über Alles Bericht erstatte.
Wohl hatte er vor, einigen gu-
ten Bekan̄ten von Pontresina
aus einen Gruß zu senden; doch
dazu fand sich keine Zeit, da er
nur einen Abend dort ver-
weilte und die Familie Enderlin
auch etwas von ihm haben
wollten. Seine Reise verlief
sehr program̄mäig. Den ersten
Tag bis Zürich, den zweiten
bis Chur, dan̄ nahm er gleich
Etrapost (Schlitten) bis Mühlen.
Den 3. Tag über den Julier bis
Pontresina. Im Engadin
war wenig Schnee und die
Berge in dichten Nebel ge-
hüllt, was für Willy eine Ent-
täuschung war. Um so freund-
licher war es im weißen
Kreuz; die guten E. wußten
vor Vergnügen nicht, was
sie meinem Man̄ zu liebe
thun sollten. Und der Abend
verstrich unter gemüthlichem
Geplauder. Den nächsten Morgen
fuhr H. Enderlin meinen Man̄ bis
Samaden, wo er wieder die Post
nahm und über den Julier zu-
rück fuhr bis Mühlen. Den näch-
sten Tag fuhr er über Landwasser
bis Davos, wo er Dr. Taffel be-
suchte, der den ganzen Winter
dort bleiben muß und dem
er eine große Freude berei-
tete. Den nächsten Tag fuhr W.
bis Basel und traf noch am
Silvester-Abend wohl und munter
hier ein. So feierten wir zu-
sam̄en das Neujahr und waren
froh wieder beisam̄en zu sein
und daß Alles so gut abgelaufen
war. Bei einem Schnee, wie
er jetzt im Engadin liegt, wäre
er nicht so bald wieder gekom̄en.
Doch nun muß auch ich Schluß
machen, Willy wird bald kom-
men um mich an die Luft zu
führen, was zwar heute nicht
verlockend, aber doch sehr nütz-
lich ist. Beinah hätte ich vergeßen
zu erzählen daß der Photographie-
kasten meinem Man̄ sehr gut
gefällt u. daß ich jetzt sehr da-
mit zu frieden bin.
Lebe wohl, grüße Alle Deine Lieben
herzlich von uns Beiden, sowie
auch wir Dich grüßen.
Deine
Tante Bertha